Kann und muss man den Tätern vergeben?

Egal ob in „spirituellen“ Kreisen oder von Angehörigen, oftmals sogar in der Therapie, hört man oft, man müsse vergeben.

Ach, aber ich weiß nicht, das Wort „Vergeben“ ist für mich schwierig.
Vergeben wird so oft gleichgesetzt, damit, dass man es jetzt ruhen lassen soll: „Ist ja irgendwann auch mal wieder gut. Schließ ab damit“ – Puh ja, für andere mag es so erscheinen, dass man „die Vergangenheit einfach mal ruhen lassen“ soll und wenn es nach mir ginge, dann würde ich nichts lieber als das. Einfach abschließen damit.
Schluss – Aus – Ende.
Nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben. Ich glaube, das ist der Wunsch der allermeisten Betroffenen.
Es ist ja nicht so, daß wir diese schreckliche Vergangenheit gerne immer wieder hochholen – Als wäre das ein Hobby.

Aber abschließen, das klappt eben nicht  indem man sich sagt: „So, jetzt ist gut damit“ – Das Trauma ist in unserem Körper gespeichert und wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit hochgeholt.
Das ist keine bewusste Entscheidung a la: „Hey, jetzt habe ich mal wieder so richtig Lust auf einen Flashback!“ (man gönnt sich ja sonst nichts im Leben).

Das Wort Vergeben wird zudem oft damit gleichgesetzt, dass man einfach alles, was war, vergisst, und der Person nichts mehr nachträgt.

Und ja, nachtragend sein ist sicherlich nicht die beste Eigenschaft, wenn man bspw. die unaufgeräumte Tasse noch 5 Jahre später wieder herausholt und dem Anderen vorwirft.

Doch wie kann ich jemand, der mir bewusst schlimmste Gewalt antat, das nicht nachtragen? Ist das Vergessen dieser Tat(en), vor allem wenn gar keine Einsicht und Besserung/Änderung in Sicht ist, nicht Selbstverletzung? Täte ich mir oder potenziell anderen Opfern denn gut damit, das einfach zu vergessen? Gut wäre es doch nur für den Täter, oder nicht? Und vllt. ist „vergeben“ auch gut für die Angehörigen, denn dann scheint das Thema beendet und niemand muss sich mehr mit etwas Unangenehmen auseinandersetzen. Vergeben und Vergessen …

„Vergeben“ finde ich daher sehr schwierig.

Meine Oma/Ein neuer Blickwinkel

Ich habe eine Oma, die mir sehr wichtig ist.
Und dann noch eine Oma, vom anderen Elternteil, die mir auch einmal sehr wichtig war, die mir aber sehr weh tat und auch sehr Schlimmes unterstützte. Um diese Oma soll es heute hier gehen.

Seit ca. 7 Jahren hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihr und zudem auch so viel Wut in mir. Manchmal stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn sie t*d ist. Ich fragte mich, ob ich überhaupt etwas empfinden würde.
Im Gegenteil, empfand ich das Gefühl, dass es ungerecht ist, dass sie ein Leben mit Geld und Ansehen führt, obwohl sie so ein schlechter Mensch ist. Ich fragte mich, wenn ich solche Menschen anschaue, wo das viel geprießene Karma denn sein soll.

Eine vieles verändernde Nachricht

Und dann erfuhr ich vor vllt 1,5 Jahren, dass sie an Demenz leidet.
Meine Gefühle waren gemischt. Ich empfand eine gewisse Befriedigung und empfinde sie bis heute. Karma gibt es also doch.
Aber da war auch eine Trauer.
Ein Gefühl der Traurigkeit, dass ihr das widerfahren ist. Nicht, weil sie es nicht verdient hätte, sondern weil es wirklich keine schöne Erkrankung ist.


Sie tat mir leid.


Das verstand ich selbst nicht.
Und ich glaube auch nicht, dass das mit einem Traumabond zusammenhing, denn ich schloss mit ihr bereits vor langer Zeit ab.
Glaube ich … (ich kann immer nur vom momentanen Gefühl sprechen – mit der Zeit oder von Anteil zu Anteil kann sich das auch verändern).

Irgendwann kam dann dieses Gefühl in mir auf, dass ich sie im Pflegeheim besuchen möchte.
Ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht warum dieses Gefühl aufkam.

Der Besuch

Also tat ich es. Zu Beginn diesen Jahres stattete ich ihr einen Besuch ab (nicht allein).
Und als ich sie sah, kamen mir die Tränen.
Schräg oder?

Ich weiß nicht, wie lange ich bei ihr war. Vllt 20 Minuten.
Und ich war positiv überrascht, weil sie so „normal“ wirkte. Oftmals bemerkte man die Demenz definitiv, aber dann waren da wieder Momente, wo sie wie sie selbst wirkte.
Ja, selbst ihre bissigen Kommentare verlor sie in der Demenz nicht.

Nach diesem Besuch hätte ich geschworen, sie hat mich erkannt.
Aber wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Rückblickend fiel mir nämlich auf, dass sie nie meinen Namen sagte oder etwas anderes Persönliches.

Ihr jetziger Zustand

Die Mutter jemand Bekanntes arbeitet in dem Pflegeheim, in dem sie jetzt ist.
Mir wurde daher letztes erzählt, dass es mit meiner Oma steil bergab geht. Sie niemand mehr erkenne und oftmals bereits nicht mehr wisse, wie man isst.

Ein Zeichen dafür, dass die Demenz bereits weit fortgeschritten ist.
Generell ging es sehr schnell mit ihrer Demenz.
Meine andere Oma sah sie kurz zuvor noch in der Stadt. Sie wirkte bereits ungepflegter als früher. Sie legte früher immer  sehr viel Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild.


Wenig später kam die Diagnose.
Wenige Monate darauf war sie im Heim.
Als ich sie besuchte, fragte ich sie, ob ihre Familie (und demnach auch ein Teil meiner) sie öfter besuchen.
Denn ich hörte über meine andere Oma, dass diese sie nicht besuchen würden. Das meine ***** meinte, sie würde ja eh nichts mehr mitbekommen und Besuche deshalb überflüssig wären – Ja, das passt zu meiner ***** . Empathie ist keine ihrer angeborenen Eigenschaften, nett ausgedrückt…

Sie antwortete mir, dass die Familie oft käme. Wohingegen die Pflegerin später meinte, dass dass nicht unbedingt der Fall ist.

Trotz all dem, was sie mir antat, tat sie mir  leid.
Ist das komisch?
Ich weiß es nicht.

Wie ich jetzt empfinde

Jetzt, wo es wohl auf das Ende zugeht, empfinde ich gemischte Gefühle. Ich empfinde immer noch auf einer Seite Mitgefühl. Auf einer anderen Seite werde ich aber auch nie vergessen (können und wollen), wer und wie sie war.

Doch jetzt ist es okay.
Keins der Gefühle hat mehr Überhand.
Weder (womöglich selbstzerstörerische) Empathie, noch das Gefühl der Genugtuung.

Versteht mich nicht falsch: Ich finde immer noch, dass das, wie es ihr jetzt geht, nämlich schlecht, verdient ist.
Aber ich habe kein Gefühl mehr, dass ich das, wie es ihr geht, brauche, um mich besser zu fühlen – Womöglich könnte man das als Gefühl der Rache noch am besten beschreiben.
Es ist weg.

Ich will weder, dass es ihr besser noch schlechter geht.
Da ist so ein (gutes) Gefühl der Neutralität.

Es ist mir egal.

Aber nicht auf einer dissoziativen Ebene. Alles, an was ich mich erinneren kann und was sie tat, ist trotzdem in meinem Verstand.

Das letzte Bild was ich so von ihr jetzt vor Augen habe, ist, wie sie leicht wankend auf Zehenspitzen im Flur des Heims stand und mir so freundlich, wie ich es nie zuvor an ihr gesehen habe, zuwinkte. Eine ganz normale alte, etwas verwirrte Lady. Und das ist ein schönes Bild. Ich glaube, genau dieses möchte ich als mein letztes von ihr in Erinnerung behalten.

Und ich frage mich….

… ist das Vergebung?
Ist das mit Vergebung gemeint? Mit dem ursprünglichen Begriff, bevor all die Pseudo-Spirituellen anfingen diesen Begriff in sein Gegenteil zu verkehren ( = Absolution für den Täter)?

Ist das mit Loslassen gemeint?

Das Gefühl, dass du nichts vergessen und vergeben musst, sondern es einfach so sein darf, wie es eben ist?
Das du niemand Absolution erteilen musst, sondern diesen Menschen und seine Taten einfach sich selbst überlassen darfst?

Es ist ihre Verantwortung, was sie getan hat und ich möchte und wünsche mir nach wie vor, dass sie spätestens im Augenblick ihres T*des dem gewahr wird.
Das wünsche ich jedem, der mich missbr*ucht hat.
Nichts Schlechtes, sondern das er sich eines Tages wahrhaftig selbst ins Auge blicken muss. Ohne all die Egoschichten, ohne all die Ausreden und Beschwichtigungen, die Menschen für ihre eigenen Taten erfinden.

Das wünsche ich ihr.
Aber heute nicht mehr um meinet wegen. Nicht mehr, um selbst das Gefühl der Genugtuung zu bekommen, sondern um ihretwillen.
Klingt abgehoben, oder?
Aber das ist genau das, was ich empfinde.

Ich wünsche ihr tatsächlich alles Gute.
Aus tiefsten Herzen.
Ich wünsche ihr, dass sie allem begegnet, was sie anderen antat. Das sie sich wahrhaftig selbst sieht und dadurch ihren Frieden findet.
Warum ich so empfinde – warum ich jetzt plötzlich so empfinde – weiß ich selbst nicht.

Vergebung

Aber wenn das Vergebung bedeutet, dann kann ich mich damit anfreunden.
Ich will niemand Absolution erteilen.
Wenn Vergebung Absolution bedeutet, dann werde ich nie vergeben (wollen).
Wenn Vergebung jedoch genau dieses Gefühl bedeutet, dann bin ich dafür offen, es vllt irgendwann auch den anderen Tätern entgegenzubringen.

Ich will sie nicht mehr in meinem Leben wissen. Ich will sie nicht mehr in meinen Gedanken haben und ich möchte ihnen auch keine (innere) Energie mehr schenken, indem ich ständig über sie nachdenke.

Ja, wenn das Vergebung bedeutet, dann fühlt es sich wirklich frei und gut an.

Aber wie ich das geschafft habe, zu diesem Gefühl zu kommen: Keine Ahnung.
Es kam einfach irgendwann.

Ich weiß also nicht, ob man sich einfach rational dazu entscheiden kann, zu vergeben. Und auch nicht, ob es immer zwingend notwendig ist. Entweder kommt der Moment/das Gefühl oder er/es kommt nicht und beide Varianten haben für sich, in dem Moment, ihre eigene wichtige Bedeutung.

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