Zuerst einmal: Was ist Selbstreflexion überhaupt?
Selbstreflexion beschreibt die Gabe, unsere eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen zu hinterfragen. Mit ihr haben wir die Möglichkeit einen Schritt beiseite zu treten und auf uns und unsere Handlungen und Empfindungen, aus einer anderen Perspektive, zu schauen.
Stellen wir uns unser Leben wie in einem Tunnel vor: Wir blicken stets immer nur gerade aus. All unsere Handlungen, Gedanken und Emotionen umspielen uns. Wir SIND unsere Handlungen, Empfindungen, usw. Eins bedingt das andere und so folgen wir diesem Tunnel, ohne daraus ausbrechen zu können. Sobald uns aber klar wird, dass all diese Dinge nur ein Teil von uns sind und nicht wir, bekommen wir die Möglichkeit sie von „außerhalb“ zu betrachten. Es ist, als würden wir aus dem Auto, das diesen Tunnel entlangfährt, aussteigen und es beim Fahren beobachten. Bei was brummt es, wann rollt es über etwas hinweg? Wir können aus der Beobachterperspektive andere Dinge wahrnehmen, als nur aus der Ich-Perspektive.
Selbstreflexion ist also die Fähigkeit uns selbst Wahrzunehmen. Uns Selbst über uns bewusst zu werden.
Warum ist Selbstreflexion so wichtig?
Ich persönlich erachte sie nicht nur als unablässig für den Weg der Traumaheilung, denn ohne sie bleiben wir in den Emotionen gefangen. Ich betrachte sie auch als einzigen Weg für die generelle Menschheit, etwas an den Umständen auf unserer Welt zu ändern. Ich persönlich glaube, dass all das Leid nur deshalb dermaßen große Ausmaße annehmen konnte, weil wir Menschen nicht mehr bewusst handeln und denken. Wir laufen wie auf Autopilot und zur Folge hat das, dass wir in der Opferhaltung verharren.
Die meisten Gewalttaten (gegen Menschen oder der Natur) basieren auf einem unreflektierten Inneren. Nehmen wir z.B das übersteigerte Ego, welches in einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung oft das größte Problem darstellt (weshalb man auch sagt, die Gesellschaft wird generell immer narzisstischer). Das Ego an sich, ist per se nichts Schlechtes. Es schützt unseren tiefen, inneren, verletzten Kern vor noch mehr Schmerz. Das Ego sieht die Welt allerdings nur aus seiner Perspektive. Das ist notwendig, um vor noch mehr Schmerz und Verletzung zu schützen. Ein wichtiger Punkt in der NPS Therapie ist daher, einen Perspektivwechsel einnehmen zu lernen. Zu verstehen, wie andere fühlen und warum man selbst tut, was man tut.
Kurzfristig gesehen ist diese (Ego) Strategie sinnvoll. Langfristig birgt sie allerdings viel Leid für unsere Umgebung und auch für uns Selbst. Verstehen wir unsere Handlungen (geprägt aus unseren Gedanken und Emotionen) nicht, beherrschen sie uns. Wir bleiben ein Opfer der Umstände und damit machtlos (was uns im Trauma – persönlichen und/oder kollektiven – gefangen hält). Selbstreflexion gibt uns also die Möglichkeit wieder handlungsfähig zu werden.
Ist Selbstreflexion angeboren?
Sprich, können wir das von Anfang an?
So wie es die Forschung bisher verlauten lässt und das glaube auch ich: Nein. Wir sind uns nicht von Beginn unseres Lebens an Selbst-bewusst. Im Laufe der Zeit erkennen wir uns im Spiegel als eigenständiges Wesen, das heißt jedoch noch nicht, dass wir uns selbst wirklich bewusst werden.
Wer bin ich?
Abseits aller Doktrin, die uns unsere Familien und das Kollektiv, in welchem wir aufwachsen, aufgibt.
Als Bsp. der vorherrschende „Schönheits“wahn: Will ICH schlank sein oder kommt dieser Wunsch von Außen? Fühle ich mich schlecht, wegen mir (bspw. bei Unter-/Übergewicht, weil ich mich schlecht bewegen kann, Gesundheitsprobleme habe etc.) oder weil ein bestimmtes Bild von mir erwartet wird? Folge ich dem was ICH WIRKLICH will oder einem Bild, was gar nicht mich selbst betrifft, welches ich aber (unbewusst) übernommen habe (= Introjektion)?
Ich persönlich glaube, dass wir auf die Welt kommen und das uns vorgegebene Weltbild übernehmen, wie wir es kennenlernen. Und das erachte ich so auch als richtig und wichtig für das Kind. Erst mit der Zeit werden wir bewusster und spüren, dass wir nicht nur Agieren können. Und ab da setzt die Fähigkeit zur Selbstreflexion ein. Ich sehe Selbstreflexion also nicht als etwas an, was wir von Beginn unseres Lebens können und auch nicht als etwas, was jeder Mensch ausbildet. Ich glaube, dass die Fähigkeit in jedem da ist. Ob wir uns aber dazu entscheiden sie anzuwenden, das bleibt jedem selbst überlassen.
Kann ich Selbstreflexion lernen?
Wenn wir tief im Trauma und tief in der Verletzung stecken, ist es erstmal normal nicht in die Meta- Ebene wechseln zu können. Wir sind (egal wann wir die Verletzung erleben) erstmal im kindlichen Zustand: Wir sind machtlos, auf unsere Außenwelt angewiesen. Um aus diesen Zustand allmählich herauszukommen, hilft es uns, Abstand zu alledem zu bekommen. Und das schaffen wir, indem wir in die Beobachterperspektive treten. Ich nenne jetzt einige Möglichkeiten bzw. Fragen, die man sich stellen kann. Letztendlich ist aber auch all das individuell. Am Anfang kann es vllt. auch helfen sich darüber Notizen zu machen:
Schritt 1 – Realitätscheck:
Beobachte erstmal nur die handfesten Dinge. Das was greif- und sichtbar ist. Ohne Emotionen, Wertungen etc., sondern ganz rational.
- Was ist gerade passiert?
- Was wurde gesagt/getan?
- Wer ist beteiligt?
- Wo bin ich gerade?
- Wie begann die Situation und wie entwickelte sie sich?
Das hilft dir später beim Abgleich, ob deine Wahrnehmung und die Realität immer übereinpassen. Wenn wir z.B in eine Traumaresponse geraten, nehmen wir die Umwelt als aktive Gefahr wahr. Aufgrund eines Triggers ist das für unser Nervensystem auch richtig, d.h aber nicht automatisch, dass unsere Umgebung in diesem Moment tatsächlich auch eine Gefahr darstellt. Kann sein, muss aber nicht. Oft stoßen wir z.B andere Menschen vor den Kopf, weil wir in eben so eine Traumareaktion rutschen. Beispielsweise durch einen Satz oder eine Verhaltensweise des Anderen, die uns an früher erinnert, an etwas das Schmerz bedeutete. Der heutige Gegenüber kann aber ganz andere Absichten haben, als derjenige, an den wir erinnert werden.
Schritt 2 – Wahrnehmung:
Hier geht es jetzt darum, wie du die Situation empfindest. Daher ist der erste Schritt wichtig. So bekommst du den Vergleich zu dem, was tatsächlich im Äußeren ist und zu dem, wie sich die Situation für dich gestaltet. Wichtig ist: So oder so, das was du erlebst ist für dich real! Bei der Frage deiner Wahrnehmung ist auch unerheblich, wie die sich Situation im Außen tatsächlich darbietet. Hier geht es erstmal nur um DEINE Wahrnehmung:
- Wie nehme ich die Situation wahr?
- Was fühle ich? Mich bedroht? Eingeschüchtert? Klein? Unwichtig? Dumm? Weniger wert? Oder fühle ich mich wohl? Anerkannt? Gesehen?Verstanden? (…)
- Fühle ich mich allein (aktiviert oft den Kampf- oder Fluchtmodus)? Oder fühle ich mich verbunden/unterstützt? (…)
- Sind es Emotionen? Schmerz? Trauer? Wut? Leere? Innere Taubheit? (…)
- Oder sind es Körperempfindungen? Schmerz oder Taubheit in den Gliedmaßen? Organen? Jucken? Kurzatmigkeit? (…)
- Oder Unruhe?
- Wo sitzen sie, die Emotionen oder Schmerzen? An welcher Stelle im Körper?
All das hilft uns, uns selbst besser zu verstehen. Wie denke und handle ich überhaupt? So kommen wir raus aus dem nur „Agieren“ und verstehen, wann wir was tun und wann wo was aktiviert wird.
Schritt 3 – Hinterfragen
- Wann fühlte ich mich ähnlich? Habe ich ähnlich Empfindungen bereits einmal gespürt und wenn, wann und in welcher Situation?
- WARUM fühle ich so? Warum fühle ich Wut, wenn man mir z.B ständig ins Wort fällt? Was steckt dahinter?
- Welche Situation hat welche Empfindung bei mir ausgelöst? (Durch das Hinterfragen der Emotion lässt sich so auch schauen, was sie eigentlich bedeutet, woher sie kommt und warum sie in dieser Situation ausgelöst wird)
Das Hinterfragen unserer Empfindungen, Gedanken und Handlungen gibt uns die Möglichkeit zu verstehen, was dahinter steckt. Ich nehme etwas wahr, das löst einen Gedanken in mir aus, dieser wiederum ein Gefühl, welches zu einer Handlung führt. Wenn wir den Ursprung verstehen, haben wir die Möglichkeit aktiv einzugreifen und nicht nur mitgerissen zu werden.
Schritt 4 – Sichtwechsel
Wenn ich mich selbst und meine Handlungen besser verstehe. Wenn ich weiß was woraus resultiert, kann ich mich auch besser in den anderen hineinversetzen. Dabei geht es NICHT darum Handlungen zu rechtfertigen! In erster Linie geht es erst einmal darum, zu verstehen, warum Menschen tun was sie tun. Dabei verstehen wir oft schnell, dass das Wenigste in Wahrheit mit uns zu tun hat. Dinge die Menschen tun (egal welcher Gesinnung) haben immer etwas mit ihnen und ihrem Innersten gemein. Genauso wie die Dinge, die wir machen, immer etwas mit uns bzw. unserem Innersten zu tun haben. Das hilft uns Abstand zu bekommen. Eine Trennung zwischen uns und der Außenwelt (und z.B dem Täter) zu schaffen. Dadurch lernen wir, dass wir nicht dauerhaft machtlos sind und selbstverantwortlich unser aktuelles und zukünftiges Leben gestalten können.
Dass das Außen über unser Innerstes nur soviel Macht hat, wie wir sie ihm zugestehen.
Eine andere Möglichkeit
Wenn sich in euch bei dieser Frage ein Wiederstand regt, geht in euch und schaut wo dieser sitzt. Was ist es mit dem ihr nicht zufrieden seid? Wenn es etwas Äußerliches ist: Was ist es? Was würdet ihr ändern wollen? Warum? Was wäre anders, wenn das verändert wäre? Was würde es an eurer Zufriedenheit ändern? Was sitzt dahinter? Der Wunsch nach mehr Nähe? Fühlt ihr euch allein? Oder der Wunsch nach Liebe? Fühlt ihr euch nicht liebenswert? Warum? Woher kommt dieser Gedanke/dieses Gefühl?
Oder ist es ein innerer Zustand? Habt ihr das Gefühl etwas anderes erreicht haben zu wollen/müssen? Fühlt ihr euch zu faul? Was ist es, was ihr denkt zu wenig zu tun? Warum? Was würde das ändern? Oder habt ihr das Gefühl euch zu wenig durchzusetzen? Woher kommt das? Welche Situationen lösen das in euch aus? Wieso fühlt ihr euch dann so? Und warum könnt ihr nicht anders handeln? Was steht euch im Weg? Welcher Umstand? Welches Gefühl steckt hinter diesem Umstand?
Diese Frage kann als sowas wie eine „Fehleranalyse“ (beim PC) fungieren. Nicht wo ihr der Fehler seid, sondern wo der Missstand, die Blockade in eurem Leben ist. „Wo ist überhaupt dieser Missstand in meinem Leben? Das was mich nicht so leben lässt, wie ich es mir im Innersten wünsche.“ Woher rührt dieser Missstand? Wie äußert er sich? Wann taucht er auf? – Die Erkenntnis darüber ist meist der erste Schritt in Richtung Lösungsfindung. Und die taucht selten sofort auf, sondern ergibt sich mit der Zeit „von Selbst“ .
Das große ‚Warum‘
Selbstreflexion erlangen wir also, indem wir hinterfragen. Warum ist etwas wie es ist und woher kommt es?
Das sind Fragen, die die Menschheit schon seit je her angetrieben haben. Die Grundbausteine jeder Wissenschaft und Philosophie. Dabei geht es aber nicht darum, die endgültige Antwort zu finden. Leben ist ein Prozess. Unsere Wahrnehmung, unsere Empfindungen, Werte und Handlungen unterliegen ebenso einem Prozess. Es geht nicht um Perfektion, nie wieder schlechte Gefühle zu empfinden oder niemals wieder jemand zu verletzten. Das wäre super, entspricht aber nicht der Realität. Und darum geht es auch nicht.
Es geht darum, sich selbst, genauso wie alles im Leben, weiterzuentwickeln. Zu leben. Wenn wir uns selbst nicht gewahr werden, stagnieren wir. Wir kommen aus selbstschädigenden Handlungsmustern nicht heraus, ebenso wenig aus Gedankenspiralen und destruktiven Verhaltensweisen gegenüber unserer Umwelt. Wir bleiben im kindlichen Opferzustand hängen. Selbstreflexion bringt Selbstverantwortung mit sich.
Über das, was andere uns antun und was wir vllt. sogar durch die Natur (Katastrophen etc.) erfahren, haben wir keine Handhabe. Auch nicht über die Verletzungen, die diese in uns hinterlassen. Aber wir haben die Handhabe darüber, wie wir sie in unser zukünftiges Leben integrieren und wie wir selbst unserer Außenwelt gegenüber auftreten.
Wir selbst sind unsere Heilung. Kein Täter. Kein Staat. Keine Natur. Kein Universum und auch kein Therapeut. Der Impuls kommt aus uns, wenn wir es zulassen.